Wartezimmer – Siebtes Bild

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SIEBTES BILD


LILY
Der nächste Patient ist Hans. Hans hat Angst. Angst vor allem. Er hat Angst, dass sein Chef in der Arbeit ihn nicht mag. Er hat Angst, dass ihm Dinge gestohlen werden, und versteckt sie deshalb in seinem Bett. Aus Angst verreist er nicht, sondern stellt sich vor, in einem fahrenden Zug zu sitzen. Hans hat Angst vor der Welt da draußen. Er erinnert sich an früher, als er jung war – und er liebt die Erinnerungen an damals. Aber heute hat er das Gefühl, in einer Welt zu leben, die zugrunde geht. Er weiß nicht, wann der Untergang begonnen hat. Für ihn sind alle Menschen dumm und feindselig geworden. Aber er hat nicht mitbekommen, wann die Menschen so dumm und feindselig geworden sind.

LAUTSPRECHERSTIMME
Herr Cárlen! Was kann ich denn heute für sie tun!

LILY
Vielleicht, denkt Hans, hat er lange geschlafen, jahrzehntelang geschlafen und ist dann in einer anderen, fremden Welt aufgewacht. Hans hat in seiner Arbeit gekündigt und trifft keine Kollegen von früher, denn sie sind genauso dumm und feindselig wie alle anderen Menschen und sie machen sie sich über ihn lustig. Er spricht mit niemandem. Einmal die Woche spricht er mit seiner Nachbarin, Frau Gračić. Früher musste sie ihr Geld als Putzfrau verdienen und hat auch in seiner Wohnung geputzt. Heute hat sie einen Job in einem Büro, aber putzt sie aus Mitleid immer noch bei Hans. Denn er ist ein Messie.

CHOR
Seit seine Frau tot ist, ist er ein Messie.
Er will aufräumen, aber er schafft es nicht.
Die Dinge liegen da und schreien ihn an.
Er schafft es nicht, sie wegzuwerfen.

LILY
Er hat eine Messie-Wohnung und schämt sich dafür. Niemand darf seine Wohnung sehen, außer Frau Gračić. Sie versucht, wenigstens das WC, das Bad und die Küche sauber zu halten, und spricht jede Woche ein wenig mit ihm. Frau Gračić mag ihn, weil er sich Lieder ausdenkt und witzige Geschichten erzählen kann. Er hat sie aus den Zeitungen und Büchern, die er abends und nachts bei seinen Streifzügen durch die Stadt einsammelt. Hans sucht in U-Bahn-Stationen, Mülltonnen und Altpapier-Containern alte Zeitungen, und wo es gebrauchte Bücher mitzunehmen gibt, dort geht er täglich mit einem Rucksack hin. In einer der Zeitungen fand er auch die Geschichte von Homer und Langley Collyer, zwei New Yorker Messies, die in Harlem in der Fifth Avenue lebten.

CHOR
Das hat er mir schon hundert Mal erzählt.

LILY
Homer Collyer war erblindet. Sein Bruder Langley ging nachts als Obdacherloser verkleidet auf die Straße, um Zeitungen, Schrott und Orangen zu besorgen. Aus den Zeitungen las er seinem blinden Bruder vor. Aus dem Schrott bastelte er im Haus Fallen, denn die Brüder Collyer hatten große Angst vor Einbrechern. Und die Orangen hat er gestohlen, weil er in einer Zeitung gelesen hatte, dass Blinde durch das Essen von einhundert oder mehr Orangen am Tag das Augenlicht wieder erlangen könnten.

CHOR
Er macht mir in der Früh einen Kaffee
und jeden Tag einen Orangensaft.
Ich kann sie nicht mehr sehen, diese Orangen.
Mein Magen ist schon ganz kaputt von ihnen.

LILY
Nach einem anonymen Anruf eines Nachbarn kam eines Tages die Polizei ins Haus und fand Homer Collyer tot auf. Er war verhungert. Langley konnte man aber nicht finden, und die Menschen erzählten bald allerlei Geschichten, wo er sich befinde. Als man das gesamte Haus der Collyers räumte – dazu musste man einhundertfünfzig Tonnen Schrott entfernen –, fand man auch Langley Collyer tot auf. Er war in eine von ihm selbst gebaute Falle getreten. Solche Geschichten erzählt Hans Frau Gračić, die ihm, bevor sie geht, noch Reis oder Nudeln kocht, damit er etwas Ordentliches isst. Hans isst zu wenig, er hat panische Angst vor dem Krebs. Er denkt, dass er weniger gefährdet ist, wenn er weniger isst und wenn ihm oft kalt ist. Im Winter nimmt er die Heizung nicht in Betrieb. Und im Sommer steht er im Supermarkt gern vor dem Kühlregal.

CHOR
Ich packe die Leute nicht. Die ärgsten Weirdos.
Die meisten haben nichts und gehen zur Ärztin.
Und ich muss auf den blöden Stempel warten.

LILY
Hans weiß, dass er heute seinen Befund bekommt. Er wird ihn in die Jackentasche stecken und nach Hause gehen. Auf seinem Heimweg wird die Sonne scheinen und ihn auslachen. Auch die Kinder, die in dem Innenhof spielen, werden auf ihn zeigen und ihn auslachen, weil er im gesamten Bau nur als Sonderling bekannt ist. An diesem Tag wird er kurz stehenbleiben und ihnen beim Fußballspielen zuschauen. Und eine kleine Träne wird in seinem Auge sichtbar werden. Nur ein Mensch wird diese Träne bemerken. Ein kleines Mädchen mit einem Roller.

KLEINES MÄDCHEN
Bist du gestürzt?

LILY
Und Hans wird ihr wortlos zunicken.

KLEINES MÄDCHEN
Ich bin gestern gestürzt. Da hab ich auch geweint.
Am besten hilft ein Kuscheltier. Aber du bist ja schon erwachsen.

LILY
Hans wird nach Hause gehen. Und alles wird sein wie sonst.

LILY
(singt das Lied „Stell dir vor“)

Stell dir vor, du gehst nach Hause.
Es ist alles so wie sonst:
Die Bänke und die Mülltonnen
und der Block, in dem du wohnst.

Stell dir vor, du bist jetzt erst erwacht
und hast vorher nur geträumt.
Stell dir vor, du hast dein ganzes
Leben bis dahin versäumt.

Und die Bänke und die Mülltonnen
und der Block, in dem du wohnst –
es ist alles, wie es war, auch wenn
Du nicht nach Hause kommst.

CHOR
Was regt er sich so auf! Wenn es ihm schlecht geht,
dann ruft er eben seine Tochter an.

LILY
Hans hat keine Tochter. Seine Tochter ist nur eine Geschichte, die er sich ausgedacht hat.

LAUTSPRECHERSTIMME
So, Herr Cárlen! Es ist alles in Ordnung. Sie brauchen sich keine Sorgen machen. Alles ist vollkommen in Ordnung. EKG und das Blutbild, das wir vor drei Tagen gemacht haben, sind auch perfekt.

HANS
Aber …

LAUTSPRECHERSTIMME
Auf Wiedersehen, Herr Cárlen!

CHOR
Jetzt muss er gehen und ärgert sich,
dass alle seinen Namen falsch betonen.


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