Wartezimmer – Drittes Bild

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DRITTES BILD


CHOR
Ich pack die Leute nicht. Jetzt kommt grad eine Alte,
die will noch heute einen Harnbefund.
Die Frau am Schalter fragt sie freundlich, ob
sie ihren Harn abgeben will. Die Alte
sagt: Nein. Sie hat den Harn schon mitgebracht.
In ihrer Handtasche.

LAUTSPRECHERSTIMME
Frau Gračić, bitte Zimmer 2!

LILY
Willst du der Frau nicht helfen? Sie geht mit einer Krücke.

HANS
Das ist eine Arthritis-Gehhilfe.

LILY
Trotzdem könnte man ihr helfen.

HANS
Frau Gračić will nicht, dass ihr jemand hilft.

LILY
Jeder will, dass man ihm hilft.

HANS
Sie will das nicht. Als sie vor fünfundzwanzig Jahren nach Österreich gekommen ist, hat man ihr geholfen. Dafür ist sie dankbar. Nach Deutschland wollte sie nicht. Die Deutschen haben ihre Heimat Serbien bombardiert.

CHOR
Ich kann das nicht!
Ich kann den Deutschen dafür nie verzeihen.

HANS
Ihr Mann und sie hatten beide nur einen Koffer und eine Reisetasche mit.

CHOR
Mein Mann schrieb damals einem Freund.
Der war mit einem Wiener Paar befreundet.
Als wir in Wien ankamen, gingen wir
in ein Kaffeehaus, um sie dort zu treffen.

HANS
Die beiden waren sehr freundlich. Sie empfanden großes Mitleid mit den Gračićs und boten ihnen die Möglichkeit, bei ihnen zu wohnen. In dem Taxi fuhren sie gemeinsam in ein Villenviertel.

CHOR
Sie öffneten die Tür und führten uns
Die Treppe runter in den Keller. Dort
Könnten wir wohnen für die ersten Wochen.

LILY
Was dachten Sie damals?

CHOR
Ich dachte nichts. Ich war einfach dankbar.

HANS
Frau Gračić hat bald Arbeit in einer Fleischfabrik gefunden. Dort hat sie fünfzehn Jahre lang Tiere zerlegt und verpackt.

CHOR
Ich habe diese Arbeit gern gemacht,
obwohl ich immer in der Kälte war.
Das mit den Gelenken wurde schlimmer.

LILY
Und heute bekommt sie Kältetherapie gegen Arthritis.

HANS
Nach elf Jahren bekam sie einen Job im Büro einer Reinigungsfirma.

CHOR
Ich brauche keine Hilfe. Ich bin froh,
Dass ich zurechtkomme und unsre Tochter
studiert. Wir haben alles, was wir brauchen.
Die Jugos, die seit dreißig Jahren hier sind,
haben gesagt, wir Kriegsflüchtlinge sind
Schuld daran, dass die Österreicher heute
die Ausländer so hassen. Früher hätten sie sie
noch gut behandelt und in Ruhe gelassen.

LILY
Fährt sie manchmal nach Hause?

HANS
Mehrmals im Jahr.

CHOR
Es ist nicht mein Zuhause.

LILY
Was macht Frau Gračić, wenn sie frei hat?

HANS
Am liebsten geht sie in den Eissalon.

CHOR
Es ist sehr schade, dass der Eissalon
nicht auch im Winter offen hat. Ich liebe Eis.

HANS
Herr Gračić mag kein Eis und Frau Gračićs Tochter isst das Eis im Eissalon nicht, weil es Tierprodukte enthält. Wenn die Mutter Fleisch kocht, schimpft die Tochter.

CHOR
Sie fragt mich, ob ich weiß, woher das Fleisch kommt?
Ja, sage ich, das Fleisch kommt aus der Kälte.
Wie ich!

LILY
Frau Gračić braucht lange. Der Mann da wartet schon ungeduldig.

HANS
Das ist der Eisenbahner. Der hat viel Zeit. Wie ich.

LILY
Du hast nur Angst. Deshalb hast du es nicht eilig.

HANS
Nein. Ich habe Zeit. Auf mich wartet niemand.

LILY
Es wird wirklich Zeit, dass du dir eine Frau suchst. Es ist jetzt zehn Jahre her.

HANS
Ich brauche nichts. Und niemanden.

LILY
Du weißt, dass das nicht stimmt. Jeder braucht jemanden, der sich um ihn sorgt.

HANS
Und hast du so jemanden?

LILY
Fang nicht wieder damit an.

HANS
Ich soll von mir reden, aber du willst nichts von dir erzählen. Oder?

LILY
Bei mir gibt es nichts zu erzählen. Ich habe keinen festen Partner. Es ist zu früh für mich.

HANS
Irgendwann wirst du Kinder haben wollen und dann wird es zu spät sein.

LILY
Ich will keine Kinder haben. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt. Und jetzt lassen wir‘s, bitte!

HANS
Ich mache mir eben Sorgen. Das ist doch normal. Du sitzt neuntausend Kilometer von mir entfernt in Tokio. Ich kenne dein Leben nicht.

CHOR
Bleib ruhig dran. Ich will nicht mit ihm reden.
Ich hör mir dann zu Hause alles an.
Wenn er dann wieder jammert, wo er wieder
Hat hinfahren müssen. Dass er die Adressen
Die ihm Sekretärin ihm schickt, nicht findet.
Und ich sag dann: Das hab ich früher auch
geschafft. Und damals sogar ohne Navi.
Ich habe auch überall hingefunden
und jedes Mal wieder zurück nach Hause.

LILY
Also, was ist mit dem Eisenbahner?

HANS
Eisenbahner?

LILY
Der Eisenbahner, der so viel Zeit hat!

HANS
Der Eisenbahner … ist bei der Bundesbahn angestellt, aber selber nie mit einem Zug gefahren. Er arbeitet auf einem Verschiebebahnhof. Oft setzt er sich in einen Zug, in irgendeinen, der gerade auf dem Verschiebebahnhof steht. In dem Zug sitzt er dann und stellt sich eine Landschaft vor, die an ihm vorbeizieht. Wenn er aus dem Fenster blickt, sieht er eine Welt aus Möglichkeiten und Abenteuern.

LILY
Wie heißt er?

HANS
Das weiß niemand.

LILY
Niemand?

HANS
Seine Frau hat es gewusst. Aber die ist schon tot. Alle sagen nur Eisenbahner zu ihm. „Guten Morgen, Eisenbahner!“ Oder: „Warum warst du bei der Ärztin, wenn du nicht krank bist, Eisenbahner?“

LILY
Und was sagt er darauf?

HANS
Er sagt nichts. Er denkt oft an seine tote Frau. Und er fragt sich, warum sie Krebs bekommen hat und nicht er. Er denkt: Viele Züge fahren. Aber viele Züge stehen einfach nur herum.

LILY
Woher weißt du, was er denkt?

HANS
Wenn er in einem stehenden Zug am Verschiebebahnhof sitzt und ein anderer Zug an ihm vorbeifährt, stellt er sich vor, dass er in Wirklichkeit fährt und der fahrende Zug steht. Es ist eine verkehrte Welt, durch die er reist.

LILY und HANS
(singen das Lied „Verkehrte Welt“)

Der Architekt entdeckt den Fehler,
Den auch der Laie gleich erkennt:
Der Dachboden, der liegt im Keller.
Und oben ist das Fundament.

Wir sehen die Welt vorüberflitzen,
Doch unser Zug, der steht ganz still.
Wir bleiben hier am liebsten sitzen,
Erreichen nicht gern unser Ziel.

Verkehrte Welt! Verdrehte Welt!
Verkehrte Welt! Verdrehte Welt!
Der Zug neben uns der fährt,
Doch unser Zug der hält.

Die Berge hier sind tiefe Gräben.
Die Täler nehmen uns die Sicht.
Im Tunnel sehen wir die Landschaft,
Kaum sind wir draußen sehn wir nicht.

Im Reiseführer steht geschrieben,
Wie es bei uns zu Hause ist.
Und wären wir zu Haus geblieben,
Dann wüssten wir, was Reisen ist.

Verkehrte Welt! Verdrehte Welt!
Verkehrte Welt! Verdrehte Welt!
Ja, unser Zug der fährt,
Der Zug daneben hält.

Im Schlafwagen sind alle munter.
Im Abteil schläft fast jeder schon.
Früh morgens geht die Sonne unter.
Den ganzen Tag scheint hier der Mond.

Der kluge Mensch lernt das Vergessen.
Erinnern macht das Leben schwer.
Den Satten gibt man mehr zu essen.
Der Bauch der Hungrigen bleibt leer.

LAUTSPRECHERSTIMME
Herr Newerkla, bitte Zimmer 2.

LILY
Er hat doch einen Namen!


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