Wartezimmer – Zweites Bild

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ZWEITES BILD


LAUTSPRECHERSTIMME
Herr Ernst, bitte! Herr Ernst, auf Zimmer 1.

LILY
Heißt er Ernst mit Vornamen oder mit Nachnamen?

HANS
Beides.

LILY
Ernst Ernst!

HANS
Ja! Lach nicht! Es hat einen Rennfahrer gegeben, der Peter Peter hieß.

LILY
Komm! Das hast du grad erfunden.

HANS
Du kannst ihn gerne googeln. Hast du gewusst, dass Giuseppe Verdi eine Oper komponiert hat, die “I due Foscari” heißt?

LILY
Also, was ist mit Ernst Ernst?

HANS
Er ist … sehr ernst.

LILY
Ist er ernsthaft krank?

HANS
Ja. Nein, eigentlich nicht.

LILY
Darum ist er heute nicht zur Arbeit gegangen, sondern zum Arzt.

HANS
Ernst arbeitet nicht mehr. Hat gekündigt. Obwohl er immer ein guter, fleißiger Mitarbeiter war.

LILY
Er hat gekündigt?

HANS
Eines Tages in einer Einkaufsstraße ging Ernst, einfach so, in ein Schreibwarengeschäft. Er wusste nicht, warum. Normalerweise arbeitete er seine Einkaufsliste exakt ab. An diesem Tag folgte er einem Impuls. Und im Nachhinein hat er es bereut.

CHOR
Wäre ich damals
nicht das Schreibwarengeschäft gegangen.
Mein Leben war nicht schlecht. Es wäre heute
Noch sehr gut, wär‘ ich nur an diesem Tag
nicht in das …

LILY
Warum?

CHOR
Ich weiß gar nicht mehr, was ich kaufen wollte.

HANS
Bei der Kasse ist Ernst seinem Chef begegnet.
Er stand da, und neben ihm seine Frau.
Der Chef stellte Ernst Ernst seine Frau vor.
Sie hatte einen Pullover an. Und ihr Bauch …

CHOR
Ich dachte, sie ist schwanger. Dieser Bauch!
„Wann ist es denn so weit?“, habe ich dann
Die Frau des Chefs gefragt.
„Wann ist es so weit?“

HANS
Sie lachte und sagte:

CHOR
„Ich bin nicht schwanger. Ich bin so dick!“

HANS
Das war dem Ernst peinlich. Als die beiden gingen und der Chef ihm zum Abschied nur zunickte und ihm nicht mehr die Hand schüttelte, wusste Ernst, dass er ihm nie wieder begegnen konnte. Er meldete sich krank und kündigte per Brief in der Arbeit.

LILY
Ist das so schlimm? Ein kleiner Fauxpas, würde ich sagen.

HANS
Zuerst dachte er an Selbstmord. Dann wollte er einfach niemandem mehr begegnen.

LILY
Ist dir das passiert?

HANS
Jetzt geht Ernst Ernst geht nur mehr außer Haus, um die Sekretärin im Immobilienbüro zu sehen, das seiner Wohnung gegenüberliegt. Die Tage, an denen er dort durch die Glasscheibe blickt und die Sekretärin betrachten kann, sind seine guten Tage. Er weiß nicht, wie sie heißt. Er kann sich alles ausdenken.

LILY
Auch ihren Namen.

HANS
Die Sekretärin Ankenbrand.

LILY
Er gibt ihr keinen Vornamen?

HANS
Für Ernst gibt es keine Vornamen. Er ist in die Sekretärin Ankenbrand verliebt.

LILY
Hat er schon einmal mit ihr gesprochen?

HANS
Das würde alles zerstören. Er schaut sie an, durch die Glasscheibe, und ist verliebt. Sie sitzt da und telefoniert, den ganzen Tag.

CHOR
Jetzt ruft er an, während ich mit dir rede.
Typisch. Er ruft nicht an, wenn ich Zeit
zum Reden habe, sondern wenn ich
gerade mit wem anderen rede.
Dann ist er wieder sauer und behauptet,
dass ich nie ran gehe. Er denkt sich nichts.

LILY

Ich möchte wissen, wie es weitergeht.

HANS
Wie es weitergeht? Ernst geht nie wieder zur Arbeit. Er geht auch nie wieder in die Nähe eines Schreibwarengeschäfts. Er geht nirgendwo hin, wo er seinem ehemaligen Chef begegnen könnte. Er steht nur manchmal vor dem Immobilienbüro, um die Sekretärin Ankenbrand anzuschauen.

LILY
Und er geht zur Ärztin.

HANS
(singt das Lied „Noch einmal“)

Noch einmal, noch einmal
Beginnt ein neuer Tag.
Noch einmal, noch einmal
Putzen gegen Zahnbelag.

Noch einmal, noch einmal:
Schuhe, Hose, Hemd.
Noch einmal, noch einmal:
In der U-Bahn eingeklemmt.

Noch einmal, noch einmal
An ihrem Büro vorbei.
Sie wird nicht da sein,
Denn heute hat sie frei.

Noch einmal, noch einmal
Den Einkauf vergessen.
Noch einmal, noch einmal,
Dann eben bestelltes Essen.

Noch einmal, noch einmal
Ein 80er-Krimi.
Das waren noch Zeiten
Mit Tanner und Schimi.

Noch einmal, noch einmal
Lege ich mich nieder.
Noch einmal, noch einmal –
Und dann nie wieder!

LILY
Das ist doch kein Schluss.

HANS
Warum nicht?

LILY
Vielleicht wünscht sich Herr Ernst, unsichtbar zu werden. Damit ihn sein Chef nicht sehen kann, auch wenn er ihm zufällig begegnen sollte.

HANS
Als Unsichtbarer würde er sich zumindest sicher fühlen.

LILY
Er stellt sich zu Hause vor den Spiegel und übt das Unsichtbar-Sein. Es gibt Momente, da beginnt sein Spiegelbild zu flackern. Es verschwindet kurz. Nach zwölf Jahren hat er es geschafft. Ernst Ernst hat das Geheimnis der Unsichtbarkeit entdeckt. Er schreibt ein Buch, wie man trainiert, sich unsichtbar zu machen. Es wird ein Beststeller und Ernst wird Millionär.

HANS
Wieso können wir ihn dann sehen?

LILY

Jetzt will er nicht unsichtbar sein. Sonst übersieht ihn die Ärztin. Unsichtbar war er nur, als er hereingekommen ist. Da hat er zuerst geschaut, ob sein früherer Chef und seine Frau da sind. Jetzt hat er keine Angst, sichtbar zu sein.


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