Vierminutenei
Aufgrund der Gesteinserosion, die Wind, Wasser, Frost und Eis bewirken, werden alle Berge ständig kleiner, außer sie sind wie der Montblanc noch im Zustand der Hebung oder Auffaltung, also noch im Prozess ihrer Entstehung begriffen, denn dann werden alle Berge, während sie kleiner werden, gleichzeitig auch größer. Nur wenn das Kleiner-Werden des Bergs und die Hebung oder Auffaltung in gleichem Maß auf den Berg einwirken, kann ein Berg überhaupt gleich hoch bleiben. Der Mann, der mir oder jedem, der ihm gegenübersaß, dieses Phänomen erklärte, hieß Richard Ill und beklagte sich beim Frühstück im Hotel täglich darüber, dass weiche Eier, oder Eier, die als weiche Eier angeboten wurden, in fast allen Hotels der Welt hart wären, während harte Eier in fast allen Hotels der Welt superhart wären. Der Montblanc, setzte Richard Ill seine Erklärungen fort, während er verdrießlich den Eierbecher zur Seite schob und das Gebäck im Gebäckkorb durch leichtes Quetschen auf seine Frische testete, der Montblanc also wäre, wenn es keine Gesteinserosion gäbe, heute 12.176 Meter hoch, eine Höhe, in der der Siedepunkt von Wasser aufgrund des niedrigen Luftdrucks bereits bei 59,16 Grad Celsius läge. Um also ein Vierminutenei zu erhalten, also ein Vierminutenei, wie es auf der Höhe des Meeresspiegels gekocht worden wäre, müsse man dasselbe Ei in der Höhe des Gipfels eines Montblanc ohne Gesteinserosion fast sieben Minuten lang kochen. Nach dem Frühstück machte Richard Ill sich auf den Weg in die Stadt. Obwohl ihn niemand danach fragte, gab er jedem die Antwort und sagte kopfschüttelnd: »Das Frühstück – eine Katastrophe.«
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Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen.
(Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches)