Klavierstunde
Als die Röntgenassistentin Eder acht Jahre alt war, sah sie im Fernsehen einen Bericht über eine Hochwasserkatastrophe in einer fremden Stadt. Die Menschen fuhren — anstatt durch die Straßen zu gehen — mit Booten durch die Stadt, mussten tagelang ohne elektrischen Strom auskommen und verkündeten in Fernsehinterviews hysterisch, sie stünden über Nacht vor dem Nichts. Die Röntgenassistentin Eder träumte von einer solchen Katastrophe in ihrer Heimatstadt. Sie beschloss, ein Boot zu bauen und es mit Vorräten von Kerzen und Streichhölzern auszurüsten. Damit würde sie durch die Gassen rudern, die Stadt wäre von Millionen Kerzen beleuchtet und die Klavierstunde mit der Musiklehrerin De Praun müsste abgesagt werden, weil das Klavier unter Wasser stand. Achtunddreißig Jahre später erwachte die Röntgenassistentin Eder und wollte die Lampe auf ihrem Nachtkästchen einschalten. Als das Licht nicht anging, wollte sie aufstehen, doch sie spürte, als sie den Fuß aus dem Bett streckte, dass das Schlafzimmer unter Wasser stand. Das Hochwasser war da! Doch die Röntgenassistentin Eder hatte das Boot nie gebaut. Untertags musste sie feststellen, dass Kerzen und Streichhölzer in den Supermärkten aufgrund von Hamsterkäufen nicht mehr vorrätig waren. Und das Klavierspielen hatte sie schon im Alter von sechzehn Jahren aufgegeben. Sie besaß nicht einmal mehr ein Klavier, das unter Wasser stehen konnte.
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Die verweigerte Violine machte mir das Klavier noch verhasster.
(Franz Grillparzer: Selbstbiographie)