Es hat sich nichts verändert

Es hat sich nichts verändert

7. Dezember 2024

Es ist nur logisch, dass die Zeit kommen musste, in der wir nach den Worten »Ausländervolksbegehren« und »Ausländerländefrage« (zuerst durch Weglassen der Anführungszeichen und dann ihre breite Landläufigmachung) ein anderes Wort als »ganz normalen Begriff« im politischen Diskurs auftauchen sehen. Ich spreche vom Wort »Deportation« und vom Wort »Massendeportation«. Beide lese ich heute in ganz normalen Zeitungsartikeln an verschiedensten Stellen. Sie erscheinen dort wie »normale« Begriffe des politischen Journalismus – wie Nulllohnrunde, Inflation oder Budgetloch.

Dass es soweit gekommen ist, ist keine Unachtsamkeit. Es ist die Folge einer seit Jahrzehnten fortwirkenden Duldung des Faschismus und seiner Sprache in Politik, Presse und im Alltag. Zunächst exkulpierend hat sich diese Duldung längst von der beginnenden »Toleranz« (für Neo-Faschisten), über das Verurteilen einer angeblichen »Ausgrenzung« (der Neo-Faschisten) bis zuletzt zur Verteidigung des »Willens« (zum Neo-Faschismus) – sichtbar und nachlesbar in den Begriffen »Wählerwille« und »Volkswille« – entwickelt.

Mein Vater hat seinen Schülerinnen und Schülern – um zu erklären, dass in der Normalität des Holocaust die Selbstverständlichkeit eines Feindbilds zu Taten fortschritt, die nicht nur Sprache blieben, sondern eine neue Wirklichkeit erzeugt haben – folgenden jüdischen »Witz« erzählt, der natürlich alles andere als ein Witz ist. Er hatte diesen übrigens von einem jüdischen Kollegen, dessen Eltern beide in Konzentrationslagern umgekommen waren, das erste Mal gehört:

Zwei Juden flüchten 1938 aus Wien vor den Nazis. Fünf Jahre nach Kriegsende kehrt einer von beiden nach Wien zurück. Nach Monaten bekommt er vom anderen, der sich um ihn sorgt, einen Anruf: »Und wie ist es in Österreich?« Der Jude in Wien antwortet: »Es hat sich nichts verändert. Sie bauen schon wieder Lager für die Juden und die Friseure.« Der andere sagt: »Alles klar! Aber eines verstehe ich nicht: Warum für die Friseure?« Daraufhin der Jude aus Wien: »Ich habe ja gesagt: Es hat sich nichts verändert.«

Die scheinbar bestechende Logik des Feindbilds ist weder bestechend, noch ist es Logik. Es ist eine dem Faschismus innewohnende Ausgrenzung, die nicht davor Halt macht, sich als Sprache, als »Logik« und schließlich als Realität des Handelns zu manifestieren: durch Gewalt. Diese Entwicklung geht anfangs vielleicht langsam und aufhaltsam vor sich. Um sie aber aufzuhalten, bedarf es des Widerstands und der Zivilcourage. Einmal in Gang gesetzt wird die Gewalt Schritt für Schritt Realität. Harald Welzer schreibt in seinem Buch Täter:

Der Holocaust ist der deprimierendste und verstörendste Beleg für die Richtigkeit des Theorems von William Thomas: »Wenn Menschen eine Situation für real halten, dann ist diese in ihren Folgen real.« Und die antijüdische Politik belegt im selben Zug die normative Kraft des Faktischen: Jede durchgesetzte Maßnahme, jeder ungeahndete Gewaltakt, jedes »arisierte« Geschäft, jede deportierte Familie, jeder ermordete Jude bestätigte aufs Neue, dass es hier nicht um Ideologie oder Propaganda ging, sondern um die Schaffung einer Wirklichkeit, deren Teil jede einzelnen Volksgenossin und jeder einzige Volksgenosse war.

Wenn ich heute in amerikanischen Zeitungen von Trumps geplanten »mass deportations« lese, sehe ich, dass der Boden für Gewalt bereitet ist. Wo ist die große Mehrheit, die schon bei der allerersten Äußerung des Wortes »Massendeportation«  die rote Linie ziehen müsste?

Ich sehe, dass der Boden für Gewalt bereitet ist, wenn ich in der TAZ in einem Artikel von Timm Kühn den Satz lese: »Bei der Migrationspolitik verfolgen inzwischen alle bürgerlichen Parteien eine Politik der Massendeportationen light.« Offensichtlich hat die Sprache der Werbung hier Einzug gehalten. Gibt es neben Brotaufstrichen und Getränken auch Massendeportationen und Genozide in einer Light-Variante? Und wie sieht Gewalt light aus?

Noch gibt es zumindest Gegenstimmen in Deutschland. Timm Kühn zählt in seinem Artikel Kundgebungen auf, die an diesem Wochenende Widerstand gegen Pläne von »Remigration« und »Massendeportation« zum Ausdruck bringen. Protestiert wird auch gegen den geplanten Auftritt eines Österreichers in Berlin: Martin Sellner soll an einem »AfD-Treffpunkt im beschaulichen Zehlendorf, seine Pläne für die massenhafte Vertreibung von migrantisierten Menschen vorstellen«.

Man fragt sich, wo der Widerstand in Österreich bleibt. In Österreich ist ein Rechtsextremer erster Präsident des Nationalrats. Als solcher nimmt er gerade drei Mandatare in Schutz, gegen die wegen des Verdachts der Wiederbetätigung ermittelt werden soll. Sandra Schieder und Colette Schmidt in Der Standard: Die drei FPÖ-Mandatare haben Ende September am Begräbnis des einstigen FPÖ-Politikers Walter Sucher, »Alter Herr« der deutschnationalen Burschenschaft Olympia, teilgenommen, bei dem das Lied Wenn alle untreu werden gesungen wurde – ein Lied, das in den Liederbüchern der Schutzstaffel (SS) Hitlers als »Treuelied« bezeichnet wurde.

Dass viele der Menschen, die sich dort versammelt haben, Lied und Text offenbar auswendig kennen und auf Anhieb singen, zeigt uns, mit wem wir es zu tun haben. In Österreich gilt es eben nicht nur gegen den Neo-Faschismus zu kämpfen, sondern auch gegen die Verherrlichung des historischen Faschismus, die nach neunundsiebzig Jahren immer noch nicht verschwunden ist. Im Gegenteil. Die ihn verherrlichen, sitzen heute in den höchsten Gremien und Insitutionen des Staates.

Wieder und wieder hat Friedrich Polakovics in seinem leider unbeachteten Roman Versuch über den Krieg (1966) vor dem Kleinreden des Nationalsozialismus gewarnt. Und das noch zu einer Zeit, als verheerende Freisprüche für Kriegsverbrecher in Österreich gang und gäbe waren. Etwa als der frühere SS-Hauptsturmführer Franz Novak am 6. Oktober, obwohl die Geschworenen seine Mitschuld am Massenmord bejahten, freigesprochen wurde. Als enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns war er von 1940 bis 1945 täglich für 6000 bis 12.000 Deportationen veranwortlich gewesen. Die meisten Deportierten wurden sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Das Statement des damaligen Bundeskanzlers Josef Klaus zum Urteil: »Extremisten und neonazistische Elemente stellen nur einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung dar.«

Brauchen wir uns also gegen diesen winzigen Bruchteil nicht zur Wehr setzen? Gegen einen winzigen ersten Nationalratspräsidenten, drei winzige Abgeordnete, einen winzingen US-Präsidenten? Wir müssen uns jederzeit zur Wehr setzen. Und zwar schon gegen die winzigen Worte, die in den winzigen Zeitungen auftauchen.

Wenn in einer Zeitung steht »Die SPÖ braucht eine Antwort zur Ausländerfrage«, dann müssen wir schon aufschreien. Es gibt keine »Ausländerfrage«. Jedes Mal, wenn ein solcher Satz auftaucht, wird bereits Ausgrenzung und Gewalt vorbereitet. Es wird bereits eine Gruppe definiert, gegen die sich die Gewalt richten soll. Tausend Mal müssen wir eine solche Formulierung zurückweisen. Sie hat in der Demokratie nichts verloren.

Würde eine große Mehrheit in diesem Land aufstehen und das tun, was zu tun ist, wäre der Spuk auch schon wieder beendet. Doch wir leben in einem Land, in dem der Neo-Faschismus kleingeredet und hofiert wird.

Also müssen wir uns widersetzen – entschieden widersetzen. Wir müssen die Nachteile, die uns dieser Widerstand und die alleinige Tatsache, dass wir uns zu Wort melden, bringen, in Kauf nehmen. Wir müssen uns gefallen lassen, dass man uns deshalb nicht mag oder uns gar für unfreundlich hält. Vielleicht ist Widerstand ja auch unfreundlich. Aber hier gelten Brechts Worte: »Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.«

https://zackzack.at/2024/12/07/es-hat-sich-nichts-veraendert