Geistlose Zustände

Geistlose Zustände

3. Januar 2025

Geistlose Zustände

Überall und täglich steht es in den Medien: Verhandlungen sind unbeliebt. Was zur Demokratie gehört wie Konsens, Kompromisse und Koalitionsbildung ist unbeliebt. Nicht nur die Boulevardmedien trompeten das Koalitionsverhandlungsbashing täglich in die Welt, sondern auch die früher seriösen Medien. Ein nie dagewesener Verfall an journalistischer Qualität und Verantwortung treibt sie dazu, jemand gefallen zu wollen. Doch existiert dieser Jemand nur in der Vulgärsoziologie der Medienmacher.

Demnächst wird es wohl heißen, es sei »unbeliebt«, dass die Mehrheit im Nationalrat über Gesetze bestimmt. Warum es nicht einmal mit der Minderheit versuchen? Alles, was Demokratie ausmacht, ist heute unbeliebt: Die Verfassung, Koalitionen, Gespräche. Wie lange es wohl dauert, bis man einsieht, dass die Implosion der Demokratie in Wahrheit eine self fulfilling prophecy ist? Sehr viele Leserinnen und Leser wenden sich vom geistlosen Journalismus angewidert ab. Das verführt die Medienmacher aber nur dazu, statt Qualität noch mehr Populismus zu bieten.

Ja, es war beim Volk beliebt, dass Schüssel und Haider ihre Koalition schon vorher abgesprochen hatten. Keine Verhandlungen. Gleich zum Bundespräsidenten. Es war beliebt, dass Kurz und Strache ihre Koalition schon vor der Nationalratswahl fertig hatten. Das war ohnehin leicht: Die FPÖ bekam nur die Zurücknahme des Rauchverbots, eine 140er-Teststrecke auf der Autobahn und Posten, Posten, Posten. Alle anderen Ankündigungen aus ihren Wahlprogramm gab sie sofort auf.

Als Populisten wussten Strache und Kurz – oder zumindest ihre Berater – wie man beim Boulevard ankommt: Bitte keine Debatten! Bitte keine Gerichte, die ewig tagen und verhandeln! Bitte kein Parlament! Kein »Hick-Hack« – es gibt doch ohnehin nur eine richtige Meinung. Und bitte lasst uns mit dieser lästigen Verfassung in Ruhe!

Viele Menschen wenden sich von dieser demokratischen Selbstzerstörung ab. Aber wo sollen sie hin? Die Idee des Rückzugs liegt nahe. Von einem »neuen Biedermeier« wird immer wieder gesprochen. Es ist verlockend. Und es ist gefährlich. »Und die Größe ist gefährlich und der Ruhm ein leeres Spiel.« So beschrieb Franz Grillparzer in »Der Traum ein Leben« die persönliche Ethik seiner Zeit. Das heißt: Die Gesellschaft zerfällt in zwei Klasse – Menschen, die herrschen dürfen und sollen. Und eine zweite Klasse, die gefälligst die Finger davon lassen soll.

Der persönliche Rückzug beschert uns das gerade Gegenteil von Demokratie. Partizipation, ja die Idee, dass die Masse ihre Angelegenheit selbst verwaltet, rückt in weite Ferne. Und es ist nicht viel Unterschied zwischen dem Biedermeiermenschen und den Meckerern und Stammtischraunzern, die von der Boulevardpresse bedient werden. Die wissen immer schon, dass alles scheiße ist. Dass alles immer schon scheiße war. Die Welt ist schlecht. Politiker sind ohnehin nur korrupt. Also kann man zur Tagesordnung übergehen und sich mit Kreuzworträtsel, Sudoku, Horoskop und Tierecke begnügen.

Selbstverständlich steckt hinter der Verbiedermeierung der Massen bewusstes Treiben. Die Manipulation, die hier betrieben wird, dient politischen Kräften, die auf der ganzen Welt immer beherrschender werden. Aufgabe ist es, sich ihnen zu widersetzen. Dass ist schwer, oft frustrierend und verlangt von der Einzelpersonen, sich einem übermächtig scheinenden gesellschaftlichen Trend entgegenzustellen, also, auch noch als unbeliebt und lästig zu gelten.

Glücklicherweise genügt ein Blick in die Geschichte, um zu sehen, dass gerade solche Personen die wichtigsten Personen der Geschichte waren: Etwa ein Giordano Bruno oder Galileo Galilei. Sie mögen nicht immer Erfolg gehabt haben und schon gar nicht eine Mehrheit hinter sich gehabt haben. Doch heute glaubt die Mehrheit nicht mehr, dass die Erde eine Scheibe ist, um die die Sonne kreist, und dass Sonne und Erde vor fünftausend Jahren von einem alten Mann mit weißem Bart hergezaubert wurden, der die Erde an sechs Tagen bevölkert und mit Zeitungen ausgestattet hat, um am siebenten Tag in Ruhe seine Zeitung zu lesen. Also haben sie etwas erreicht; sogar sehr viel erreicht. Sie haben einen übermächtigen Gegner besiegt. Unser heutiges Weltbild, Demokratie, Frauenrechte, Wahlrecht, in vielen Ländern die Abschaffung der Todesstrafe – all das wurde zunächst von Pionierinnen und Pionieren angedacht, die nicht beliebt waren und oft verfolgt wurden. Und doch haben sie die Säulen der heutigen Welt und unseres Weltbilds errichtet.

Es ist nur ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte ist nötig, um zu sehen, dass die Duckmäuser, Kuscher und Mitmacher der Menschheit keine Veränderung gebracht haben außer eine: Sie haben autoritären Systemen und dem Unrecht zu ihrer Macht verholfen und sie an der Macht gehalten. Wollen wir zu ihnen gehören?

Aus diesem Grund – gerade weil uns die Geschichte genug Material bietet, die gefährlichen Auswirkungen eines »neuen Biedermeier« und Mitläufertums zu studieren – wenden sich autoritäre Systeme gegen die Geschichte. Sie versuchen, die Geschichte auszurotten und wo das nicht möglich ist, sie nach ihren Belieben umzuschreiben. So war es im Faschismus, im Nationalsozialimus und auch in den kommunistischen Staaten. Der Revisionmus dieser Systeme konstruiert selbst eine offizielle Vergangenheit und duldet darüber keinen Diskurs und keine Meinungspluralität.

Wenn ich heute Zeitungen lese, befürchte ich, dass wir bald auch dort angekommen sind. Noch regt sich da und dort im Blätterwald etwas, aber die allgemeine Beschwörung der Demokratiefeindlichkeit, des blinden und mit keinen Fakten zu begründenden Ausländerhasses, der Ruf nach Todesstrafe und Abtreibungsverbot, Verfassungsfeindlichkeit, Ruf nach Aufrüstung und Krieg und der Wunsch nach autoritären Regierungsformen ist erschreckend.

Natürlich haben all diese Radikalisierungen ihr Ziel: Der Konsument soll ruhig gehalten werden. Aber er muss Konsument bleiben. Denn im Konsum bietet man ihm das Surrogat für die Dinge, die man ihm genommen hat: Freiheit, Selbstbestimmung und eine Welt mit Geist und Herz. Konsum ist heute, um mit Marx zu sprechen, »der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt« und »der Geist geistloser Zustände«.

Durch Konsum kann das Kapital der Welt auf eine immer kleinere Schicht konzentriert werden, die täglich reicher und reicher wird. Hat diese kleine Schicht früher noch die Gunst der Politik gesucht, so macht sie heute selbst Politik. Sie kauft Politiker und Medien, ganze Staaten auf. Und ihrer Gangster stehen überall und drohen denen, die sich widersetzen. Widerstand ist anstrengend und erscheint aussichtslos. Aber es gibt keinen anderen Weg.

Rückzug und »modernes Biedermeier« sind Scheinlösungen. Die »heile Welt« zu Hause, kann nur in einer insgesamt heilen Welt erstrebenswert sein. »Des Innern stiller Frieden«, von dem Franz Grillparzer schreibt, kann nur dann bestehen, wenn es auch außen Frieden gibt.

https://zackzack.at/2025/01/03/geistlose-zustaende