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Das Nichts

Das Nichts

 

In Dingshofen fiel am 3. Juli keine einzige Person von einer Leiter. Am selben Tag touchierte weder in Dingshofen noch in Dingshofen-Einöde ein Auto ein anderes Auto oder ein Garagentor, kein Kind berührte aus Neugier oder von anderen Kindern zu einer Mutprobe angestachelt den elektrischen Weidezaun des Bauern Tritremmel, kein Rasenmäher schnitt die Zehe eines barfuß Rasenmähenden ab, der Fleischermeister Halász traf mit seinem Hackebeil kein einziges Mal einen seiner achteinhalb Finger, kein Windstoß fegte eine Schindel von einem Dach, kein Topf mit Milch wurde auf einer Herdplatte vergessen und lief über, kein Regen überflutete einen Keller und kein Abfluss wurde verstopft, kein Blitz schlug ein, da es kein Gewitter gab, keine Kontaktlinse verschwand in einem Ausguss, kein Haustier musste gerettet werden, niemand starb, kein Mensch erkrankte, nichts wurde gestohlen, der Strom fiel kein einziges Mal aus, keine Wand wurde mit Graffiti beschmiert und der Autobus aus Bumshofen kam zwei Mal exakt zu der im Fahrplan angegebenen Zeit in Dingshofen-Bushaltestelle an, worauf der Busfahrer Rubendunst langsam ausstieg, drei Zigaretten hintereinander rauchte und es dabei nicht, wie von seinem Hausarzt befürchtet, zu einem weiteren Herzinfarkt kam. Der Redakteur Wuchte vom Dingshofener Boten, zuständig für die Rubrik Katastrophen und Unglücke, telefonierte mit der Gendarmerie, der freiwilligen Feuerwehr und allen umliegenden Krankenhäusern, um auf irgendetwas zu stoßen, vom dem er berichten könnte. Er führte Gespräche an Stammtischen und hielt Ausschau nach brennend weggeworfenen Zigaretten; doch er sah keine einzige, die irgendetwas hätte in Brand stecken können. Aber nicht nur in Dingshofen gab es nichts zu berichten. Auch aus Bumshofen, Gratz, Greinsberg, St. Georgen an der Gusen, Goldwörth und Grammastetten, Linz, Passau, München, Berlin, New York und Tokio wurde an diesem Tag kein einziges Unglück gemeldet. Wuchte wartete noch bis zehn Minuten vor Redaktionsschluss. Dann schrieb er in größter Eile einen Artikel mit dem Titel Ein ganz normaler Tag in Dingshofen und legte ihn dem Chefredakteur Grammel auf den Tisch. Grammel überflog den Artikel. Dann schob er das Blatt seufzend zur Seite und erinnerte den Redakteur Wuchte daran, dass es seine Aufgabe sei, fortlaufend den Tatbestand von Unfällen und Unglücken zu reproduzieren. Doch auch die Nacht verging ohne Einbrüche und Katastrophen. Und am darauffolgenden Tag ereignete sich wieder nichts. Der Redakteur Wuchte machte das Radio an, um die Frühnachrichten zu hören. Die Sprecherin sagte, man spiele nun, da es keine Schlagzeilen gäbe, anstatt der Schlagzeilen eine Fantasie von Mozart. Anstatt der Inlandsnachrichten spielte man ebenfalls Mozart. Man spielte auch statt der Auslandsnachrichten Mozart, statt der Wirtschaftsnachrichten Mozart, die Kulturberichterstattung wurde durch Mozart ersetzt und nachdem der Wetterbericht mit dem Satz endete, das Wetter werde morgen genau so sein wie heute, spielte man wieder ein paar Takte Mozart. Bis hierher sind die Geschehnisse allgemein bekannt. Es gibt aber verschiedene Berichte darüber, was danach passiert sein könnte. Manche wollen wissen, dass der Redakteur Wuchte den Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr Dingshofen empfohlen habe, einen Brand zu legen, denn – so erklärte er es dem Mann – die Feuerwehr laufe Gefahr, wenn sie nicht gebraucht werde, auch keine Förderungen der Gemeinde und des Landes mehr zu bekommen. Auf ähnliche Weise soll er einen Gendarmen zu einem Banküberfall angestiftet und den Arzt von Dingshofen eingeredet haben, er müsse seine Patienten mit verschiedenen Krankheiten infizieren. Andere behaupten, dass der Redakteur Wuchte beim Hören von zuviel Mozart irrsinnig geworden sei. In Bumshofen wieder erzählt man, dass der Redakteur Wuchte an diesem Tag mit zittriger Hand seinen letzten Artikel geschrieben, dem Chefredakteur Grammel auf den Schreibtisch gelegt haben und dann für immer verschwunden sein soll. Der Artikel soll die Überschrift Das Nichts getragen haben:

Das Nichts

Es kommt von Westen und hat bereits die Ostküste Amerikas erreicht, von wo es auf dem Weg zu den Azoren ist: das Nichts. Es kündigt sich durch äußerste Ereignislosigkeit an, die die Menschen zunächst euphorisch macht. Sie denken, dass das Ausbleiben schlechter Nachrichten etwas Positives wäre, freuen sich darüber und glauben, dass sie in besonders guten und sicheren Zeiten leben würden. Bald aber beginnt das Nichts zu nichten, Menschen und Tiere zu lähmen, sie unbeweglich zu machen, ihre Gehirntätigkeit einzuschränken und ihre Atmung zu verlangsamen. Gegen das Nichts kann man nur eines tun: nichts. Dadurch wird das Nichts nur noch größer und nichtiger. Schon in wenigen Tagen wird es sich unaufhaltsam über Frankreich, die britischen Inseln und Dingshofen, Dingshofen-Einöde und Dingshofen-Bushaltestelle geschoben haben. Seine ersten Anzeichen habe ich bereits von zwei Tagen bemerkt. Man hält mich aber für verrückt und schlägt meinen Warnungen in den Wind. Doch es gibt keinen Wind mehr. Es gibt nichts mehr. Und bald wird dieses Nichts unsere Atmung lähmen und unsere Muskulatur anhalten. Umsonst wird man sich dann nach Bränden und Überschwemmungen, nach Blut, Tod und Irrsinn sehnen, nach Kultur anstatt immer nur nach Mozart und Mozart und Mozart. Aber es wird nur mehr nichts geben. Und dieses Nichts wird am Ende unseren Herzschlag zum Stillstand bringen und uns töten.

0 1 2 – Österreichisches Kulturforum Rom

Mi 05.02.2024 ● 19:00

Lesung und Gespräch

Daniel Wisser

0 1 2

Roman

Eintritt frei nach Anmeldung unter: events.rom-kf@bmeia.gv.at, Einlass 18:30-19:00 Uhr

Ort: Österreichisches Kulturforum Rom / Forum Austriaco di Cultura Roma, Viale Bruno Buozzi 113, 00197 Roma

https://www.austriacult.roma.it/de/veranstaltung/0-1-2-daniel-wisser/

https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/0-1-2/Daniel-Wisser/Luchterhand-Literaturverlag/e607152.rhd

Der neue Roman von Daniel Wisser: »eine der spannendsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur« (SZ)

Vor dreißig Jahren verstorben, bekommt der Computerentwickler Erik Montelius ein zweites Leben geschenkt: Als erster Patient weltweit wird er aus der kryonischen Konservierung geholt. Fortan sieht er sein Dasein nicht in Leben und Tod geteilt, sondern in erstes Leben, zweites Leben und Tod. Doch auch im zweiten Leben ist die Welt keine bessere: Seine Frau hat seinen Geschäftspartner geheiratet – der hat zudem Eriks Ideen geklaut. Die Menschen tragen Masken über Mund und Nase, wischen auf tragbaren Computern herum und haben die Visionen von einer gerechten und umweltfreundlichen Gesellschaft aufgegeben. Erik hat nichts, kein Geld, kein Zuhause, nicht einmal einen Ausweis. Aber er hat einen Verdacht, wem er seinen ersten Tod zu verdanken hat. Und er hat einen Buchvertrag und damit die Gelegenheit, die Wahrheit ans Licht zu bringen …

Liebe Einmalgeborene Eingeborene, es nützt nichts, Sie müssen es ein zweites Mal versuchen! Das Immergleiche passiert immer wieder, es schaut nur jedes Mal anders aus. Aus diesem Buch können Sie erfahren, was passiert ist, während Sie tot waren. Uns sagt es hier Daniel Wisser, lesen Sie es, sonst versäumen Sie was! Und wenn Sie rechnen können, wissen Sie auch, wieviel es geschlagen hat.

Elfriede Jelinek

Daniel Wisser gehört jedenfalls zu den wenig zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache, die über Seiten hinweg Pointen liefern, ohne ins Seichte abzudriften.

Carsten Otte (Exlibris)

https://oe1.orf.at/programm/20231126/740280/Hier-Jetzt-Sofort

Mit 0 1 2 ist Daniel Wisser ein höchst vergnüglicher, formal gewiefter, zugleich politisch brisanter Gegenwartsbefund gelungen.

Katja Gasser (ORF/Zeit im Bild 1)

Es ist drei Jahrzehnte her, dass ich von dem Psychologen James H. Bedford hörte, der sich am Ende seiner Tage verzweifelt fragte, wie er seinen Tod werde überleben können. Als er im März 1967 starb, war er der erste Mensch, der sich auf minus 196 Grad tieffrieren ließ. Der österreichische Schriftsteller Daniel Wisser hat 2023 in seinem scharfsinnigen und geistreichen Roman „012“ durchgespielt, wie es einem Menschen ergehen mag, der nach dreißig Jahren aufgetaut und in ein zweites Leben geschickt wird, und sein Romanheld erfährt, dass wiedergeboren zu werden auch nicht das reine Vergnügen ist.

Karl-Markus Gauß (Süddeutsche Zeitung)

https://www.sueddeutsche.de/meinung/bedford-gefrierfach-kryonik-zack-kass-seegurken-1.6321943

Mit Montelius schafft Wisser eine ambivalente Figur, die sich weder von der Gegenwart noch der Vergangenheit vereinnahmen lässt. Neben Beatles-Exegese und der ins Hysterische überzeichneten Familiendynamik erzählt Wisser federleicht, mit Witz und Verve, von der Gegenwart und von einem, der auszog, um zum zweiten Mal zu leben, ohne Rücksicht auf Verluste.

Johanna Lenhart (Die Presse)

https://www.tagesspiegel.de/kultur/daniel-wissers-roman-o-1-2-das-gluck-und-das-pech-eines-wiederauferstandenen-10436818.html

Wissers Roman erzählt von einer binär gepolten Gesellschaft, die drängende Probleme nicht bewältigt, weil sie einen anderen, einen dritten Lösungsweg weder erkennt noch einzuschlagen für möglich hält. Ganz anders der Protagonist der Geschichte: Kaum ist er wieder unter den Lebenden, arbeitet er die Lügengeschichten des kriegstraumatisierten Vaters auf, um selbst jenseits der elterlichen Verstrickungen ein ehrliches Familienmodell leben zu können.
Dieser Erzählstrang überrascht dann auch mit einer ernsten Tonalität, die insgesamt gut zur Entwicklung der Figur passt: Erik erkennt, dass sich Freiheit nur im verantwortungsvollen Miteinander realisieren lässt.

Carsten Otte (Tagesspiegel)

https://www.tagesspiegel.de/kultur/daniel-wissers-roman-o-1-2-das-gluck-und-das-pech-eines-wiederauferstandenen-10436818.html

Er zählt zu den originellsten Autoren Österreichs: In seinen Bestsellern kombiniert Daniel Wisser Gesellschaftskritik, launige Beziehungskisten und dramaturgische Kniffe. Ging es im Buchpreis-prämierten Roman Königin der Berge um den Tod, folgt nun die Wiederauferstehung. Sein neues Buch 0 1 2 handelt von einem, der ein zweites Leben geschenkt bekommt. Wobei 0 1 2 ein klassischer Schelmenroman ist, der – in Dialog mit einer Ghostwriterin formuliert – als Autobiografie daherkommt, manchmal böse, oft komisch, immer sprühend vor Ideenreichtum.

Alice Pfitzner, Paula Pfoser (ORF/Topos)

https://topos.orf.at/archive-des-schreibens-daniel-wisser100

Der neue Daniel Wisser, ein politisches Buch? Gewiss! Unsere Gesellschaft steht auf dem Prüfstand. Sie gibt keine gute Figur ab in diesem Spiel der Egoismen und Fest der Lebenslügen.

Anton Thuswaldner (FURCHE)

Daniel Wisser legt in seinem neuen Roman einen genau beobachteten, bitterbösen Befund der Gegenwart vor, der mit viel Lust an der Satire bis in ein Asylantenheim führt.

Marianne Fischer (Kleine Zeitung)

https://www.kleinezeitung.at/kultur/6324762/Buch-der-Woche_Daniel-Wisser-und-der-Mann-der-aus-dem-Eis-kam

Schlau, komplex, trotzdem unkompliziert ist dieses freche Buch.

Barbara Beer (Kurier)

https://kurier.at/kultur/buch/daniel-wisser-wer-zweimal-lebt/402595604

Gewitzter und gefinkelter hat sich noch selten eine literarische Figur aus dem Staub gemacht.

Judith Hoffmann (Ö1/Morgenjournal)

Doch wie lebt es sich als Toter, der doch wieder lebt, unter alle jenen, denen diese Erfahrung gänzlich fremd ist? Der u.a. mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnete Wisser hat aus einer simplen Idee einen Roman mit großem Nachhall geschrieben.

ÖSTERREICH

Daniel Wisser ist ein sehr flüssig zu lesender Roman über unsere Zeit gelungen. Mit scharfer Beobachtungsgabe zeigt er die Verwerfungen unseres Daseins auf. Der phantastische Plot ist nur die Folie, um Spießertum und Gedankenlosigkeit sichtbarer zu machen.

Helmut Schneider (Wiener Bezirksblatt)

https://wienerbezirksblatt.at/das-zweite-leben-des-erik-montelius-buchtipp-von-helmut-schneider/

»Die Familie – so wollen es die Verbrecher, die man die normalen Menschen nennt – geht niemand etwas an.« Die aktuelle Sprengkraft dieses Satzes konnte der Autor beim Schreiben noch nicht erkannt haben.

Konrad Holzer (Buchkultur)

0 1 2 versteht es immer wieder zu überraschen. Im Gegensatz zur Hauptfigur kann man als lesende Einwegexistenz also immer wieder konstatieren: Einmalig!

Salzburger Nachrichten

https://www.sn.at/kultur/literatur/0-1-2-daniel-wisser-holt-einen-toten-zurueck-ins-leben-145216174

In 0 1 2 versucht der wiedergeborene Protagonist, den eigenen Tod aufzuklären. Das ist witzig, mitunter boshaft, klar zeitkritisch und raffiniert gebaut. Das Buch ist vieles in einem. Es ist aber auch ein ernüchternder Beziehungsroman und ein desillusionierender Gegenwartsbefund.

APA

Ein wirklich originelles Lesevergnügen.

Kronen Zeitung

0 1 2 ist ein sehr kluger Roman mit vielen Zwischentönen und hat mit Erik Montelius einen der interessantesten, witzigsten und sympathischsten Protagonisten dieses Bücherjahres.

Veronika Hofeneder (Literaturhaus Wien)

http://www.literaturhaus.at/index.php?id=13948&L=634

Daniel Wisser greift einmal mehr genial nach Mensch und Sinn und begeistert in mitreißender Erzählkraft und tiefgründiger Gesellschaftskritik!

Walter Pobaschnig

https://literaturoutdoors.com/2023/10/02/0-1-2-daniel-wisser-roman-luchterhand-verlag/

Famos erzählt.

NEWS

Flüssig erzählen kann Wisser, das muss man ihm lassen.

Michael Wurmitzer (Der Standard)